Epheser 2,11-22 | Göttinger Predigten im Internet (2024)

Äussere und innere Werte | 2. Sonntag nach Trinitatis | 9. Juni 2024 | Eph 2,11-22 | Thomas Muggli-Stokholm |

Wir geniessen das Privileg, in einem schönen und heimeligen Land zu leben. Bei uns ist noch alles überschaubar und für den Normalbürger fassbar: Bundesrätinnen können ohne Eskorte mit dem Velo zur Arbeit fahren. Und gerade am heutigen Sonntag haben die Stimmberechtigten Gelegenheit, über wichtige Fragen zur Energie- und Gesundheitspolitik mitzuentscheiden.

Andererseits ist in der Schweiz ausser den Bergen fast alles klein und niedlich. Zwar haben wir mit dem 57 Kilometer langen Gotthardtunnel den längsten Tunnel der Welt. Bei Prunkbauten gerät die Schweiz hingegen ins Hintertreffen. Ein einziges Gebäude, der Roche-Turm 2 in Basel, knackt haarscharf die 200-Meter-Marke. In unserem Nachbarland sind allein in Frankfurt am Main rund zehn Gebäude höher oder beinahe gleich hoch. Und im Vergleich zum höchsten Gebäude, dem Burj Khalifa in Dubai mit seinen 828 Metern, gleicht das Hochhaus in Basel einer Puppenstube. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht. Aber ein ganz kleines Bisschen nagt dieser Befund doch an meinem Selbstwertgefühl. Wäre es nicht schön, wenn unser Land etwas mächtiger und grösser wäre? Ach, wenn die alten Eidgenossen doch nur die Schlacht bei Marignano gewonnen hätten! Dann hätten wir jetzt in Genua vielleicht Mittelmeer-Anstoss. Vielleicht kultivieren wir in der Schweiz gerade wegen unserer Kleinheit Understatement und Bescheidenheit.

Schon in der Antike sind Prunkbauten ein bevorzugtes Mittel, um Macht und Reichtum zu demonstrieren. Das erlebt die christliche Gemeinde in Ephesos, an welche sich unser Predigttext richtet, hautnahe: Ephesos, etwa 70 Kilometer südlich der heutigen, türkischen Stadt Izmir gelegen, ist mit über 200’000 Einwohnern eine der grössten Städte des römischen Reiches. Ihr Prunkstück ist der Artemis-Tempel, eines der sieben Weltwunder der Antike. Seine Ausmasse sind für die damalige Zeit gigantisch: Die Fläche umfasst mehr als ein Fussballfeld. 127 Säulen mit einer Höhe von achtzehn Metern tragen das riesige Dach. Wirklich ein Wunder der Baukunst, wogegen sich der ganze Stolz des alten Israels, der Tempel in Jerusalem, geradezu niedlich ausnimmt. Zur Zeit, als unser Predigttext verfasst wird, gegen Ende des ersten Jahrhunderts, ist der Jerusalemer Tempel allerdings ohnehin Vergangenheit: Im Jahr 70 erobern die Römer die Stadt und zerstören den Tempel. Ein grosser Teil der Juden muss das Land verlassen. Mit dem Tempel geht das äusserliche, religiöse Zentrum verloren. Das Judentum muss sich neu orientieren. Das Gesetz des Mose, die Tora und ihre Auslegung werden zur geistlichen Mitte, die Identität stiftet. Die Beschneidung ist das Zeichen für das Bürgerrecht im Volk Gottes.

Kehren wir zurück nach Ephesos. Auch der Artemis-Tempel, dieses Wunder antiker Baukunst, bleibt nicht ewig bestehen. Im Jahr 278 zerstören ihn die Goten. Seine Reste werden als Baumaterial verwendet. Ephesos verkommt zur Provinzstadt und verschwindet im 14. Jahrhundert endgültig nach der Eroberung und Zerstörung durch die Türken.

Der kurze Blick auf die Geschichte zeigt, dass Prunk, Macht und ihre Symbole keinen Bestand haben. So frage ich mich, wie der Burj Khalifa und andere Wunderbauten in 500 Jahren aussehen. Bleibt von ihnen irgendetwas bestehen ausser Trümmern und wehmütigen Erinnerungen?

Prunksymbole sind nicht nur vergänglich. Wie ihre Geschichte zeigt, sind sie auch Anlass zu Gewalt und Krieg. Reichtum und Macht bringen Neid und Eifersucht mit sich. Sie entzweien und trennen. So gibt es im römischen Weltreich Menschen verschiedener Kategorien: An oberster Stelle die römischen Bürger, alles Männer, Frauen bleibt das Bürgerrecht verwehrt. Eine Stufe darunter finden wir die Barbaren, Ausländerinnen und Ausländer ohne Bürgerrecht, zuunterst Sklavinnen und Sklaven. Ewig lässt sich eine solche Aufteilung nicht halten, und schon gar nicht auf friedliche Weise. Die Privilegierten sind gezwungen, ihre Vorrechte und ihren Reichtum mit Gewalt zu verteidigen. Doch eben: Dieser Kampf ist zuletzt aussichtslos. Reiche kommen und gehen. Und zuletzt setzt der Tod allem ein Ende.

So gesehen hat die Neuorientierung des Judentums nach der Zerstörung Jerusalems Zukunft: Die Menschen gewinnen ihre Identität nicht mehr in äusserlichem Prunk und Machtgehabe. Mit der Tora ist ihr Massstab geistig und unvergänglich. Ihr Privileg, zum auserwählten Volk zu gehören, ist von Gott selbst garantiert. Doch auch in diesem Konzept lauern Gefahren. Und damit komme ich zu unserem Predigttext. Das Gesetz mit seiner Fülle an Geboten und die Beschneidung als Zeichen des Bürgerrechts im Volk Gottes können allzu rasch zu rein menschlichen Angelegenheiten verkommen, die wiederum zu Ausgrenzung und damit verbundener Aggression führen: Wer nicht beschnitten ist. Und wer die Tora nicht erfüllt bis zum letzten Häkelchen, der bleibt draussen, ein Fremdling, ausgeschlossen vom Bürgerrecht im Volk Gottes. Wieder ist es der Mensch, der bestimmt, wer dabei ist, wer zu den Glücklichen und Privilegierten gehört und wer nicht.

Genau das nimmt der Verfasser unseres Textes, ein Schüler von Paulus auf. Er schreibt an die Gemeinde in Ephesos, Menschen, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind, ohne bisher etwas von der jüdischen Tradition zu wissen:

«Denkt daran, dass ihr einst als ‹Heiden im Fleisch› galtet, ‹Unbeschnittene› genannt wurdet von den sogenannt Beschnittenen, deren Beschneidung am Fleisch mit Händen gemacht wird, dass ihr damals fern von Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und Fremdlinge, nicht einbezogen in die Bundesschlüsse der Verheissung, ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt.»

Mit wenigen Worten bringt der Verfasser auf den Punkt, was ich vorhin ausgeführt habe: Baut der Mensch in seinem Leben auf seine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, bleibt sein Leben hoffnungslos und gottlos, fern von aller Heimat, von Glück und Geborgenheit, nach denen er sich sehnt. Das gilt auch für die Juden, wenn sie die Beschneidung zur Arbeit ihrer eigenen Hände verkümmern lassen.

«Denkt daran, einst lebtet ihr ohne Hoffnung und ohne Gott!», schärft der Verfasser den Ephesern ein, um dann sogleich mit einem erlösenden «Jetzt aber» weiterzufahren:

«Jetzt aber, in Christus Jesus, seid ihr, die ihr einst weit weg wart, ganz nahe durch das Blut Christi. Denn er ist unser Friede, er hat aus den beiden eins gemacht und die Wand der Feindschaft, die uns trennte, niedergerissen durch sein Leben und Sterben. Das Gesetz mit seinen Geboten und Bestimmungen hat er aufgehoben, um die beiden in seiner Person zu einem einzigen, neuen Menschen zu erschaffen, Frieden zu stiften und die beiden durch das Kreuz in einem Leib mit Gott zu versöhnen; zerstört hat er die Feindschaft durch seine eigene Person.»

Christus ist unser Friede. Um diesen Spitzensatz gruppiert der Verfasser eine Fülle an Anspielungen auf die Theologie seines Vorbildes Paulus: Im Zentrum steht der Kreuzestod Jesu. Dieser befreit uns von allen Illusionen. Mit Jesus stirbt am Kreuz der alte Mensch (Röm 6,6) mit seinen hoffnungslosen Versuchen, selbst gross, gut und mächtig zu sein. Indem Jesus, der Sohn Gottes, seine Person, sein Leben hingibt, zerstört er diese Illusionen und die damit verbundene Feindschaft. Ja, er reisst die Wand der Feindschaft nieder und schafft Raum für den neuen Menschen, der seine Identität von Gott allein erhält. Christus stiftet Frieden, indem er die Menschen, die ihn in ihrem Drang nach Macht und Geltung verfolgen und töten, begnadigt. Er stiftet Frieden, indem er uns das Evangelium verkündigt, die frohe Botschaft, dass wir alle gleichermassen Kinder Gottes sind, ob reich oder arm, ob mächtig oder wehrlos. Das ist die Grundlage, uns zu versöhnen (2. Kor 5,18-20). So schreibt Paulus im Galaterbrief: «Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.» So schliesst unser Verfasser seinen Gedankengang mit der grossartigen Zusage: «Ihr seid also nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, ihr seid vielmehr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossinnen Gottes.»

Was das bedeutet, bringt der Verfasser im letzten Teil unseres Textes bildhaft zur Sprache. Er greift dazu ein provokatives Wort von Jesus aus dem Johannesevangelium auf: Nachdem Jesus die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel Jerusalems gejagt hat, fragt man ihn, mit welchem Recht er das tue. Er entgegnet: «Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten.» Jesus weist damit hin auf seinen Tod, der das Gotteshaus als äusserlichen Prunkbau ersetzt durch den geistlichen Tempel, den Gott mit seiner Auferstehung begründet. Auf dieser Basis braucht unser Text am Ende den Tempel als Bild für die Kirche. So schreibt er: «Ihr seid Mitbürger der Heiligen und Hausgenossinnen Gottes, aufgebaut auf dem Fundament der Apostel und Prophetinnen – der Schlussstein ist Christus Jesus selbst. Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn, durch ihn werdet auch ihr mit eingebaut in die Wohnung Gottes im Geist.»

Der Friede Christi und die Versöhnung, die er mit Gott stiftet, wird konkret in der Gemeinschaft der Kirche. Und diese Gemeinschaft ist mehrdimensional: Zum einen wissen wir uns hier und jetzt miteinander verbunden durch Christus, unseren Schluss- oder Eckstein, so verschieden wir auch sind. Zum anderen sind wir verbunden mit allen Menschen, welche vor und nach uns aus dem Glauben lebten. Die Fundamente des geistlichen Tempels reichen zurück in die Zeit der Prophetinnen, Propheten und Apostel. Und der Tempel ist kein Bau, welcher fest gefügt dasteht, um irgendwann einmal zu verfallen und verrotten. Er ist ständig neu im Werden und wächst, wenn Menschen sich im Geist mit einbauen lassen in die Wohnung Gottes. Wieder zeigt sich unser Verfasser hier als Paulusschüler. In sein Bild der Kirche als Tempel spielt jenes aus dem 1. Korintherbrief hinein, wo Paulus von der Kirche als dem Leib Christi spricht, der wächst und gedeiht, wenn alle wie die Glieder im Körper ihre je eigene Aufgabe wahrnehmen und einander wertschätzen.

Ich habe meine Predigt begonnen mit dem Blick auf Prunkbauten der Menschen. Waren es früher Tempel und Paläste, sind es heute Hochhäuser, Tunnels und andere technische Wunderwerke. Prunk und Macht schaffen Unterschiede, Gewinner und Verliererinnen, Menschen, die dazu gehören und solche, die ohne Bürgerrecht und ausgeschlossen sind. Die Folge davon sind Neid, Hass, Feindschaft und Krieg. Unser Predigttext stellt menschlicher Grösse und äusserem Prunk den Heiligen Tempel Christi entgegen. Hier gibt es keine Insider und Fremden. Alle, die sich auf Christus, unseren Frieden, einlassen, werden mit eingebaut, gehören dazu und prägen die Wohnung Gottes mit dem, was sie einbringen.

Der Text spricht mehrere Male von Fremden. Da läuten uns heute, am Flüchtlingssonntag, die Glocken. Mir scheint, dass die Diskussion, wie wir in der Schweiz mit Flüchtlingen umgehen, im Moment blockiert ist durch extreme Positionen. Vereinfacht gesagt sieht die eine Seite in den Flüchtlingen lauter gute Menschen, bei denen reiche Länder wie die Schweiz tief in der Schuld stehen, weil sie vom Unrecht der Welt profitieren.

Die andere Seite betont dagegen, dass es uns nur gutgeht, weil wir tüchtig und rechtschaffen sind. Auf den Flüchtlingen lastet dagegen der Generalverdacht, dass sie nur unsere sozialen Institutionen ausnützen wollen. Unser Predigttext eröffnet Auswege aus dieser verhärteten Situation: Bei Christus gibt es prinzipiell keine Fremdlinge, keine Menschen ohne Bürgerrecht. Alle, auch Flüchtlinge und Migranten, sind Mitbürger und Hausgenossinnen Gottes. Doch diese Zusage ist kein Blankoscheck. Und nun bin ich wieder bei unserer kleinen Schweiz: Unser Land funktioniert nur, solange wir unsere Verantwortung in der Gesellschaft wahrnehmen, also nicht nur Forderungen stellen, sondern auch unseren je eigenen Beitrag leisten. Und dieser Betrag darf und soll auch eingefordert werden von jenen Menschen, die neu bei uns wohnen.

Durch Christus haben wir beide in einem Geist Zugang zu Gott dem Vater, schreibt unser Verfasser. Öffnen wir uns diesem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Und lassen wir uns versöhnen von ihm. Dann greift der Friede Christi. Und unser Land bleibt heimelig, weil die Menschen einander Sorge tragen. Amen.

Thomas Muggli-Stokholm

Epheser 2,11-22 | Göttinger Predigten im Internet (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Horacio Brakus JD

Last Updated:

Views: 6288

Rating: 4 / 5 (71 voted)

Reviews: 86% of readers found this page helpful

Author information

Name: Horacio Brakus JD

Birthday: 1999-08-21

Address: Apt. 524 43384 Minnie Prairie, South Edda, MA 62804

Phone: +5931039998219

Job: Sales Strategist

Hobby: Sculling, Kitesurfing, Orienteering, Painting, Computer programming, Creative writing, Scuba diving

Introduction: My name is Horacio Brakus JD, I am a lively, splendid, jolly, vivacious, vast, cheerful, agreeable person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.